The endowed view, Stadtgalerie Kiel, 2011

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Zum „gestifteten Blick“ von Chili Martina Seitz

"Unter einem Denkmal versteht man gewöhnlich eine traditionelle bildkünstlerische Form der Memorierung, die sich weniger dem widmet, was den Menschen alltäglich begegnet und sich in ihrem Erfahrungsraum ereignet. Vielmehr dienen Denkmäler dazu, Geschichte zu verewigen. Das „historische Denkmal“ einer bedeutenden Persönlichkeit oder der Soldatenverehrung, der Erinnerung an den Aufbau des Vaterlandes oder der Verklärung des Heldentodes hat nicht nur erinnernde Funktion und will auch im Gedenken kaum zum Denken anregen. Solche Denkmäler, die sich mit dem Ziel der Erinnerung an ein Individuum oder Kollektiv richten und sich dadurch von Bauwerken (Burgen, Schösser etc.), die zu „Denkmälern“ erklärt oder unter Denkmalschutz gestellt werden[1], unterscheiden, haben eher beruhigende, schützende oder abwehrende Funktion.[2] Dass sich das Gedächtnismedium „Denkmal“, jedoch auch anders nutzen lässt, zeigt die Arbeit „der gestiftete Blick“ von Chili Martina Seitz.

Die Künstlerin hat zahlreichen, von eher unbekannten Personen gestifteten, Parkbänken nachgespürt und ein „Archiv für immaterielle Denkmäler“ angelegt, das sich nicht der Historie, sondern vielen Geschichten von Menschen im Erfahrungsraum der Stadt Kiel widmet. Dabei wird nichts vor die Augen gestellt, das die eigene Vorstellung verstellt. Vielmehr bringt sie Aussichten und Hintergründe zu Gehör. Figur dessen, wofür Denkmäler stehen, wird dabei die Stimme, die als Medium wiederbelebender Erinnerung fungiert.

Schon Rainer Maria Rilke verwies auf den Dichter, der den Ruf der Dinge zu hören vermag und auf den Künstler, der dem Wunsch folgt, der Dinge Sprache zu sein.[3] Dazu bedarf es nach Rilke einer „Umkehr der Räume“. Er konnte jedoch noch nicht wissen, dass man diese Umkehr auch über Kopfhörer ermöglichen kann. Mit geschlossenen Augen kann man aus der aktuell wahrnehmbaren Welt heraus und in eine Hörwelt eintreten. Was einem alltäglich im städtischen Raum aussen und en passant begegnen mag, ertönt nun innen und verwandelt sich in eindringliche Vorstellungsbilder. Jeder Hörer von Radio-Hörspielen oder Hörbüchern weiss, dass in der Isolation des Hörens Visuelles nicht gegeben sein muss, da es im Wechselspiel der Sinne entsteht. Das Gehörte vermag jedoch nur dann Bilder zu evozieren, wenn das Akustische diese auch zu stimulieren weiss. In der Arbeit „Der gestiftete Blick“ gelingt das durch eine Stimme, die eine Aufhebung der Grenze zwischen innen und aussen ermöglicht. Es ist die Stimme der Künstlerin selbst. Der Stimmduktus und ihr zartes Tönen erinnern an anfängliche Wörter, die man in der Kindheit vernahm, an eine Sprache der Empfindung.[4] Als besonderer Teil des Leibes, aus dem das Leben in wechselnden Stimmungen zu tönen vermag, erlaubt sie ein anderes Andenken. Auch die Beteiligung eines Hörenden ist leiblich und bedingt insofern eine tiefer gehende Auseinandersetzung. Stimme erweist sich insofern als besonders geeignetes Medium, um ein immaterielles Denkmal zu realisieren, denn in ihr realisiert sich Zeit und bringt zu Bewusstsein, dass sich Gegenwart immer schon durchdrungen von Erinnerung zeigt.

Zum zeigenden Sprechen der Stimme kommt das, was die Sprache sagt, die von einer Parkbank spricht. Am aufdämmernden Morgen, zur stillsten Stunde um die Mittagszeit oder bei hereinsinkender Nacht hat sich jeder schon mal auf einer Parkbank niedergelassen. Man geht hier den eigenen Gedanken nach oder führt ein Gespräch über dies und das. Aber wird auch bewusst, dass ein jeder hier Zeit findet, sich der Zeit zu widmen? Und wer wüsste, dass die Parkbank selber eine Geschichte hat und Geschichten zeitigt? Vor den Parkbänken blühen die Gärten zumeist schweigend und hinter ihnen bleiben die Häuser ungesehen.

Die Künstlerin beschreibt was sie vor, hinter und neben einer Parkbank sieht. Die Sachen selbst lassen sich nicht fassen, aber die Wirkungen, die sie hervorrufen. Sie betont damit nicht nur ihren Platz in der Stadt, sondern erzählt die Geschichten derer, die Bänke stifteten. Dadurch zeigt sie ihren Raum im Leben von Menschen, ihre Verbundenheit mit menschlichen Schicksalen auf, die wiederum mit den Erfahrungen anderer Menschen verknüpft sind. In der Mitteilung von Erfahrung liegt eine weitere Stärke dieser Arbeit, in mündlicher Erzählkunst, die im Informationszeitalter ein seltenes Gut darstellt und keiner besser zu würdigen wusste als Walter Benjamin:

„Sie senkt die Sache in das Leben des Berichtenden ein, um sie wieder aus ihm hervorzuholen. So haftet an der Erzählung die Spur des Erzählenden wie die Spur der Töpferhand an der Tonschale.“ [5]

Chili Martina Seitz nimmt das, was sie erzählt, aus ihrer Erfahrung und aus den Erfahrungen der Stifter von Parkbänken, die man in Kiel täglich aufsuchen kann. Mit Bindung an Sichtbares, das abwesend bleibt, gelingt über eine Stimme und das zeigende Sprechen, die zu Gehör kommen, eine Befreiung des Blicks, denn im Empfindungskomplex, den die Erzählung ermöglicht, wird das Blickfeld entgrenzt. Das Stumme erhält Stimme, das Farblose Farbe, das Kleine gewinnt an Größe, das Unscheinbare wird interessant und dabei wird deutlich: die kleinsten Geschehnisse bergen die größten Ereignisse."

Petra Maria Meyer

[1] Vgl. zu Begriff und Funktion des Denkmals: Dietrich Schubert, Formen der Heinrich-Heine Memorierung im Denkmal heute, in: Aleida Assmann, Dietrich Harth (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt/Main 1991, S. 101- 143, hier S. 104.

[2] Vgl. Hans Ulrich Reck, Inszenierung der Todesparadoxie zwischen Magie und Historie. Zur Sprache der Denkmäler im 20. Jahrhundert, in: Konstruktionen des Erinnerns, Transitorische Turbulenzen I, Kunstforum, Bd. 127, Juli-September 1994, S. 184-215.

[3] Vgl. Rainer Maria Rilke, Über Kunst, in: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 5, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 426-435.

[4] Vgl. Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Stuttgart 1981.

[5] Walter Benjamin, Der Erzähler, in: Ders.: Illuminationen, Frankfurt/Main 1980, S.385 – 410, hier S. 393.

(Prof.in Dr. phil. habil. Petra Maria Meyer, Philosophin sowie Theater- und Medienwissenschaftlerin)


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